„Hinterherlaufen ist verlorene Liebesmüh“

Hinter Ghosting "steckt häufig eine Schutzstrategie", sagt Jessica Di Bella © Cindy König, Berlin
Ein Geist geht um in deutschen Ausbildungsbetrieben: Ghosting. Das Verhalten, bekannt aus dem Online-Dating, zeigt sich inzwischen auch immer häufiger, wenn es um die Besetzung von Azubistellen geht: Bewerber tauchen nicht mehr auf – und sind auch nicht mehr erreichbar. Jessica Di Bella kann als psychologische Beraterin dieses Phänomen einordnen, kennt aber auch die Unternehmensseite. Im Interview mit POSITION erklärt sie, warum Betriebe das Thema sportlich nehmen sollten.
Agnes Mayer
Agnes Mayer
Freelancerin © Klaus Satzinger-Viel

Zur Person. Dr. Jessica Di Bella ist Dozentin für BWL, Innovation & Change und gleichzeitig psychologische Beraterin. Seit mehr als 15 Jahren lehrt sie an verschiedenen nationalen und internationalen Hochschulen, wie der HWR Berlin, der Universität Mannheim oder der Hochschule München. Als Wissenschaftlerin hat sie außerdem in Stanford und an der Charité in Berlin geforscht. Neben Lehre und Forschung ist Jessica Di Bella als Coach, Beraterin und Management-Trainerin für Unternehmen und Privatpersonen tätig.


Ghosting ist vor allem aus dem Online-Dating bekannt. Was versteht man darunter?

Jessica Di Bella: Ghosting bedeutet, dass ein Kontaktabbruch ohne Vorankündigung erfolgt. Das kann in einer Freundschaft oder einer Liebesbeziehung ­passieren, aber auch in einer ­beruflichen Beziehung.

Ist Ghosting eine Altersfrage?

Es hängt weniger mit dem Alter als mit der sozialen Prägung und der Persönlichkeitsstruktur zusammen. Da sind zum einen die Freunde um einen herum, aber auch die Eltern, die ein solches Verhalten vorleben. Ich beobachte es inzwischen genauso bei älteren Generationen. Die ­letzte Person, von der ich geghosted wurde, war nicht 15, sondern 50 Jahre alt. Die Entwicklung ist zwar von der Generation Z und Y initiiert worden, in den vergangenen Jahren aber Mainstream geworden. Mittlerweile sind es nicht mehr nur junge Menschen, die Ghosting betreiben, sondern andere haben dieses Verhalten übernommen – übrigens auch HR-Abteilungen selbst.

Inwiefern?

Ich bekomme von Menschen mit, die ich als Beraterin ­begleite, dass sie in über 50 Prozent der ­Fälle auf Bewerbungen weder eine ­Eingangsbestätigung noch irgendeine andere Rückmeldung erhalten. Dahinter steckt häufig eine Schutzstrategie. Unternehmen wollen sich nicht angreifbar machen, wenn sie Kritik äußern oder Absagen geben. Denn jede Absage ist mit einem organisatorischen Mehraufwand und einem juristischen Risiko verbunden.

Drehen junge Bewerberinnen und Bewerber jetzt den Spieß einfach um?

Auch für Einzelpersonen ist Ghosting auf psychologischer Ebene eine Schutzstrategie. Wenn man sich als Bewerber anders entscheidet und einem Unternehmen eine Absage gibt, will es vielleicht zumindest wissen, warum. Dann bekommt man noch drei Mails und einen Anruf reingedrückt, obwohl man einfach nur nicht dort arbeiten will. Oftmals sind das Menschen, die auch privat konfliktscheu sind und anderen Menschen nicht vor den Kopf stoßen wollen. Ghosting ist ihre Art der Konfliktvermeidung.

Was können Unternehmen tun, wenn ein interessanter Bewerber plötzlich abtaucht?

Es gibt auch fahrlässiges Ghosting, weil zum Beispiel eine Mail einfach untergeht. Dann kann man in einer zweiten Mail noch einmal nachfragen. Wenn darauf aber auch nichts kommt, muss man das als ein klares Nein werten. Keine Antwort ist eben auch eine Antwort. Hakt man dann weiter nach, ist das eher kontra­produktiv. Hinterherlaufen bringt nichts. Das ist verlorene Liebes­müh. Schließlich wollen Sie nicht jemanden haben, der erstens nicht besonders ­zuverlässig zu sein scheint und zweitens ­offensichtlich auch nicht wirklich überzeugt von der Stelle ist.

Was empfehlen Sie stattdessen?

Als Personalerin würde ich da eine ganz sportliche Haltung entwickeln: Der Ball kam nach dem ersten Ballwurf nicht zurück? Dann probiere ich es noch ­einmal. Ansonsten spiele ich ihn einfach jemand anderen zu. Stecken Sie die Energie, die Sie sonst mit Ärgern verbrauchen, lieber in die Suche nach neuen ­Azubis, zum Beispiel indem Sie in ein TikTok-Video investieren, um junge Bewerberinnen und ­Bewerber anzusprechen.

Springen wir mal vom Bewerbungsprozess weiter: Der Wunschkandidat sagt zu, unterschreibt sogar den Vertrag – und ist am ersten Arbeitstag einfach weg. Und jetzt?

Psychologisch gesehen würde ich das so einordnen, dass die Person beim Arbeitsstart gespürt hat, dass es nicht passt. Manchmal passiert es, dass Eltern, das Umfeld oder auch das Unternehmen jemanden in die Stelle reinreden, obwohl derjenige sich gar nicht sicher war. Dieses Vielleicht-Gefühl dreht sich dann in ein klares Nein, wenn man vor Ort merkt, dass es nicht das Richtige ist. Oftmals wissen wir die Dinge erst, wenn wir sie ausprobieren. Dann ist es besser, schnell einen Schlussstrich zu ziehen, als es jahrelang durchzuziehen und dabei unglücklich zu sein. Ich ­finde, das ist in dem Moment eine ­mutige Entscheidung des Azubis oder der Azubine – auch wenn sie für Unternehmen frustrierend sein kann.

Fünf Tipps, um dem Ghosting-Schrecken ein Ende zu bereiten:

  • Hinterfragen statt hinterherlaufen: Stellen Sie auch Ihre eigene Kommunikation auf den Prüfstand. Gibt es vielleicht jemanden, der noch auf Ihre Antwort wartet?
  • Sportlich nehmen und weitermachen: Ghosting gehört inzwischen zum Sprachgebrauch. Wichtig ist, dass man es nicht persönlich nimmt, sondern nach vorne geht.
  • Bloß nicht anrufen: Junge Menschen fühlen sich von unangekündigten Anrufen schnell belästigt, vor allem, wenn sie die Nummer nicht kennen. Schreiben Sie besser eine Mail.
  • Schnuppern lassen: Ermöglichen Sie Bewerberinnen und Bewerbern ein Probearbeiten. So können sie frühzeitig ausprobieren, ob die Ausbildung und das Unternehmen zu ihnen passen.
  • Zwischenkontakte ermöglichen: Binden Sie ältere Azubis in die Kommunikation ein. Gleichaltrige haben untereinander einen besseren, ehrlicheren Draht.

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