Der Fachkräftemangel dämpft das Wirtschaftswachstum: In ihrem aktuellen Fachkräftereport hat die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) die Antworten von über 22.000 Unternehmen quer durch alle Branchen ausgewertet und festgestellt, dass trotz der angespannten konjunkturellen Lage jeder zweite Betrieb Schwierigkeiten hat, offene Stellen zu besetzen.
„Einige Branchen sprechen nicht nur von Lücken bei Fachkräften, sondern von einem allgemeinen Mangel an Arbeitskräften“, berichtete der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks von den Ergebnissen der Umfrage. 82 Prozent der Unternehmen erwarten demnach negative Folgen durch personelle Engpässe. Die Stellenbesetzungsschwierigkeiten werden der Erhebung zufolge zunehmend auch zum Standortrisiko für Deutschland, sie hemmen Investition – gerade im Mittelstand – und bremsen die Innovationsfähigkeit der Unternehmen aus.
Die Engpässe gefährdeten den Erfolg in wichtigen Schlüsseltechnologien, warnte Dercks. „Um bei entscheidenden Zukunftsaufgaben wie Klimaneutralität, Digitalisierung, Elektromobilität und Gesundheitsversorgung schnell voranzukommen, brauchen wir ausreichend Fachkräfte.“
Mutmacher am Rhein
So kritisch die Situation in vielen Betrieben ist: Es gibt auch in der IT-Branche Unternehmen, die (noch) keine fortlaufenden Schwierigkeiten bei der Besetzung von Stellen haben. Zu diesen erfreulichen Ausnahmen zählt die Vario AG, ein Software-Entwicklungsunternehmen mit Sitz in Neuwied.
Seit über 25 Jahren entwickelt die Vario AG am Rhein ERP (Enterprise Resource Planning) Software für kleine und mittelständische Produktions- und Dienstleistungsunternehmen. Dem Fachkräftemangel begegnet sie konstruktiv: „Natürlich gibt es Arbeitsressourcen, die gelegentlich ausfallen und nicht einfach mit einem Fingerschnipsen zu kompensieren sind“, stellt Prokurist Hendrik Schneider klar. „Aber in solchen Momenten können wir nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern müssen aktiv reagieren.“ Grundsätzlich versucht der Betrieb auch in solchen Fällen, Überstunden bei den knapp 90 Mitarbeitenden zu begrenzen. Notwendige kurzzeitige Mehrbelastungen werden transparent mit dem Team abgestimmt. Ein besonderer Erfolg für Vario: Bislang konnten offene Stellen zügig nachbesetzt werden.
Wie schafft die Neuwieder IT-Schmiede dieses Kunststück? Schneider und sein Kollege Joachim Still, Personalverantwortlicher des Unternehmens, sind sich einig: Das knappe Angebot an Arbeitskräften macht den Markt vor allem erst einmal spannender. Der Herausforderung, unter dem geringen Angebot passende Mitarbeitende zu finden, begegnet die Vario AG mit vielerlei Ansätzen wie etwa Sponsoring-Aktivitäten im regionalen Sport, den im Raum Neuwied stets präsenten Firmenwagen oder mit Kooperationen mit den Hochschulen in Koblenz und Remagen. Außerdem bildet die eigene Belegschaft ein starkes Netzwerk, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Vario AG als Arbeitgeber werben.
(Mehr) Offenheit im Recruiting
Ein zentraler Faktor ist darüber hinaus Offenheit im Recruiting-Prozess. Selbst Bewerberinnen und Bewerber, deren Qualifikation nur eine geringe Überschneidung mit dem gesuchten Stellenprofil hat, oder Menschen mit einer auf den ersten Blick nicht perfekt passenden Arbeitsbiografie werden zum Gespräch eingeladen. So ist beispielsweise ein Azubi des Unternehmens bereits 30 Jahre alt. Einem Ukrainer ohne Deutschkenntnisse, der Joachim Still auf einer Jobmesse ansprach, bot die Vario AG die Möglichkeit, nach dem Erlernen der Sprache einen erneuten Vorstellungstermin zu vereinbaren. Heute absolviert er eine Ausbildung zum Softwareentwickler im Betrieb.
Ob die unkonventionellen Ansätze Erfolg haben, wird nach der sechsmonatigen Probezeit beurteilt. Hier ist Hendrik Schneider konsequent: Wenn Betrieb und Mensch nicht matchen, wird das Arbeitsverhältnis nicht fortgesetzt. „Wenn es aber beidseitig passt, dann bleiben die Leute auch“, berichtet er. Und das bis zur Rente: In diesem Jahr verabschiedet die Vario AG ihren ersten Mitarbeiter in den Ruhestand.
Der DIHK-Fachkräftereport im Internet: www.dihk.de