„Wir stehen vor einer fundamentalen Veränderung in der Arbeitswelt“

Prof. Christoph Igel bei einem IHK-Fachkongress © Markus Schmuck
Im Interview: Professor Dr. habil. Christoph Igel, Wissenschaftlicher Direktor des Educational Technology Lab des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin, unterhielt sich mit unserer Autorin Tonia Sorrentino darüber, wie sich deutsche Unternehmen in Zeiten der digitalen Transformation aufstellen können, um wettbewerbsfähig zu bleiben.
Tonia Sorrentino
Tonia Sorrentino
Journalistin für Recruiting & Human Ressources © Anna Schwartz

Herr Prof. Igel, alle sprechen von Digitalisierung. Was bedeutet dieser Begriff eigentlich genau?

Digitalisierung meint die Überführung des Analogen ins Digitale, also der physischen, greifbaren Welt in eine virtuelle, eine Cyberwelt. Dafür werden Informations- und Kommunikationstechnologien genutzt, die Basis der Digitalisierung sind Daten. Mit der Digitalisierung gehen vielfältige Entwicklungen und Veränderungen einher. Gewollte und ungewollte, beabsichtigte und unbeabsichtigte. In der Gesellschaft, bei den Menschen, am Arbeitsplatz, in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von kleinen, mittelständischen und großen  Unternehmen. Dabei ist die Betrachtung von Technologien an sich jedoch weniger wichtig.

Womit sollten sich die Unternehmen Ihrer Ansicht stattdessen befassen?

Digitalisierung hat zwei zentrale Aspekte. Zum einen ist eine aus meiner Sicht spannende Frage in diesem Kontext, was die Informations- und Kommunikationstechnologien mit den Menschen, den Unternehmen, den Strukturen und Abläufen machen – was also die Effekte dieser Technologien sind. Und die nächste, meiner Meinung nach entscheidende Frage, lautet dann: Warum sollen wir diese Effekte überhaupt nutzen? Somit stehen statt der Technologien also die Chancen, Potenziale und Risiken im Fokus, die sich für Unternehmen ergeben. Zum Beispiel mit Blick auf neue Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen, aber auch Arbeit, Bildung, Diversität und die engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Welche Effekte meinen Sie zum Beispiel?

Ob Industrie 4.0, Internet der Dinge oder Big Data: All das ruft Veränderungen am Arbeitsplatz und Change-Prozesse in der Unternehmenskultur hervor, aber auch in den persönlichen Lebenswelten. In den Medien, der Politik und in Unternehmen wird derzeit etwa die Künstliche Intelligenz, insbesondere das Maschinelle Lernen, intensiv diskutiert. Kognitive Assistenten sollen auf Basis von KI-Methoden zum intelligenten Coach werden, der etwa Mitarbeiter in Unternehmen durch verschiedene Arbeits- und Qualifizierungsprozesse begleitet. Das Ziel ist, ihre Lern-Erfahrung möglichst individuell zu steuern, beratend zu gestalten und damit spezifische Bildungsziele zu erreichen. Solche Anwendungen haben perspektivisch durchaus das Potenzial, die heutigen Trainerinnen und Trainer, also den echten Menschen, in Tätigkeiten mit hohen kognitiven Anteilen, zu ersetzen.

Wie realistisch schätzen Sie diese Situation ein?

Wissenschaftler aus den USA schätzen das so genannte Substitutionsrisiko durch Künstliche Intelligenz im US-amerikanischen Arbeitsmarkt bis zum Jahr 2030 auf etwa 47 Prozent. Oder anders formuliert: etwa die Hälfte der heutigen Jobs sind in Gefahr, in den nächsten 10 Jahren durch Spitzentechnologien wegzufallen. In Deutschland geht die auch von einem gewissen Substitutionsrisiko aus, das jedoch deutlich niedriger liegt, je nach Studie etwa bei 15 Prozent. Meiner Meinung nach immer noch eine nachdenklich stimmend hohe Zahl.

Das würde also bedeuten, dass in zehn Jahren mindestens jeder siebte Job in Deutschland wegfällt, weil alles digital wird?

Theoretisch ja. Allerdings muss man bedenken, dass es sich um Prognosen handelt, nicht um Fakten. Volkswirtschaftlich betrachtet gab es in unserer Arbeitswelt in den vergangenen Dekaden immer wieder Phasen der Substitution von Arbeitsplätzen durch neue Technologien. Denken Sie nur an die Visionen von menschenleeren Fabriken durch die Automatisierung oder der virtuellen Hochschulen durch das Internet in den 1990er Jahre. Bisher bezogen sich die Substitutionen von Arbeitsplätzen allerdings immer auf konkret benennbare Zielgruppen in definierten Branchen. Bei der Einführung von Mikroprozessoren, Automatisierungstechniken, PC und Internet war zum Beispiel recht schnell klar, welche Aufgaben und Tätigkeiten entfallen. Und welche neuen Jobs entstehen würden.

Was ist diesmal anders?

Studien zeigen auf, dass diesmal nahezu alle Berufe in nahezu allen Branchen betroffen sein können: Anwalt, Arzt, Handwerker, Notar, Professor, Sachbearbeiter, Ungelernte, Handwerker. Wir stehen also vor einer fundamentalen Veränderung in der Arbeitswelt. Wie haben Unternehmen bei drohendem Verlust von Arbeitsplätzen bislang reagiert? Durch die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die neuen Jobs. Doch dies wird diesmal wohlmöglich absehbar kompliziert: in der Wissenschaft, aber auch in vielen HR Abteilungen von Unternehmen wird derzeit intensiv über die Jobs von morgen diskutiert. Doch die Frage ist: was genau und wie genau sind die Jobs von morgen? Welche Jobs wird es geben? Kennen wir diese überhaupt schon? Und wenn wir diese nicht genau kennen – wie sollen wir dann die Menschen für die Jobs von Morgen qualifizieren?

Wie könnte eine mögliche Antwort lauten?

Zunächst muss man konkreter fragen: Welche Kompetenzen brauchen die Leute in der Zukunft, um welche Tätigkeiten zu machen? Haben wir dafür Qualifizierungsangebote? Und mit welcher Methodik werden diese neue Kompetenzen für die neuen Profile vermittelt?

Bezüglich der Methodik wäre es sinnvoll, Digitalisierung zur Qualifizierung zu nutzen, da diese auch die Arbeitsplätze verändert. Auf Digitalisierung kann man nicht mit Papier und Bleistift reagieren – das wäre ein Anachronismus. Aber in Deutschland ist die Akzeptanz des Digitalen in der Personalentwicklung und bei der Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Unternehmen nach wie vor niedrig. Menschen treffen sich gerne zu Präsenzveranstaltungen mit einem echten Trainer in einem echtem Raum. Digitale Weiterqualifizierungsangebote haben eine geringe Akzeptanz. Diese Situation ist seit vielen Jahren unverändert.

Sind deutsche Unternehmen demnach nicht bereit für die digitale Arbeitswelt von morgen?

Meine Erfahrung aus mehr als zwei Jahrzehnten Forschung ist, dass die Digitalisierung am ehesten in den großen, international agierenden Konzernen, in zweiter Instanz in Teilen der mittelständischen Unternehmen angekommen ist. Gerade familiengeführte Mittelständler sind der Digitalisierung gegenüber sehr aufgeschlossen. Die Mehrheit, der dem Thema offen gegenüberstehenden Firmen schaut darauf, wie sie durch Digitalisierung ihre Produktivität erhalten oder steigern kann. Das ist eine sehr funktionale Betrachtung, für den Corporate-Sektor aus meiner Sicht gleichwohl die richtige. Die in Teilen der Unternehmen in Deutschland vorherrschende Zurückhaltung gegenüber der Digitalisierung und die damit nicht selten einhergehenden Haltungs- und Motivationsprobleme können nur dann gelöst werden, wenn wir Wege finden, die Menschen zur Nutzung digitaler Werkzeuge und digitaler Angebote zu motivieren. Das schafft man nur mit hochwertigen Angeboten, die für das Unternehmen nutz- und sinnstiftend sind. So könnte ein Teil der Schwierigkeit gelöst werden.

Was ist der zweite Teil des Problems?

Wir brauchen schnell skalierbare, exzellente und auf die Zukunft ausgerichtete digitale Bildungs- und Qualifizierungsangebote für die Jobs, für die Arbeitswelt von morgen. Wir haben von heute beginnend zehn Jahre Zeit, die Menschen vorzubereiten – im laufenden Betrieb, denn die Produktion muss ja weitergehen. Das ist wie eine Operation am offenen Herzen. Dazu braucht es passende Angebote, die in dem sehr großen Wirkungsfeld der Digitalisierung erst einmal gefunden werden müssen. Derzeit fehlt es noch an zeitgemäßen Angeboten in ausreichender Zahl und hinreichender Qualität. Und – ich hatte bereits darauf hingewiesen – diese Angebote müssen auch, mit einem sehr hohen Anteil, digital sein. Da gäbe es Möglichkeiten wie Mobile Learning, Serious Games, also das spielerische Lernen von ernsten Inhalten, Virtual Reality und Augmented Reality Technologien, die man nutzen könnte. Zeitgemäße Lernsysteme nutzen Künstliche Intelligenz, sie erkennen das Interesse des Nutzers und regen ihn etwa an, sich weiter mit passenden Themen zu beschäftigen. Überdies müssen wir auch wichtige Bestandteile der 21st-Century-Skills entwickeln, etwa die digitalen Kompetenzen, die es braucht, um sich in einer durch Digitalisierung verändernden Welt auszukennen, Orientierung zu haben, leben und arbeiten zu können.

Wie geht man diesen Bedarf am besten an?

In den vergangenen Jahren gab es die ersten wegweisenden digitalen Bildungsangebote etwa zum Thema Industrie 4.0. In 2018 hat das DFKI mit dem Bitkom, dem Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, erstmals eine KI-Manager-Qualifizierung aufgesetzt. Sie vermittelte unter anderem, was KI genau ist, welche Methoden und Anwendungen es gibt und wie KI die Geschäfts- und Produktivitätsentwicklung beeinflussen kann. Diese Qualifikation dient der Einschätzung der Relevanz von KI für das eigene Unternehmen. Diese Qualifizierung ist bisher einzigartig. Aber das Angebot deckt den Bedarf nicht einmal im Ansatz. Großunternehmen haben tausende Mitarbeiter an mehreren Standorten weltweit, die im Bedarfsfall sehr rasch und zielgerichtet mit hoher Praxisrelevanz ausgebildet werden müssen. Da reicht ein einzelnes Angebot wie unser KI-Manager einfach nicht aus.

Können wir derartigen Angeboten denn eine breite Basis schaffen?

Eine Fehlvorstellung wäre, dass das einer alleine oder einige wenige Bildungsanbieter für die Unternehmen in Deutschland leisten könnten. Man kann nur viele Player an einen Tisch setzen und sie gemeinsam nach bestmöglichen Lösungen suchen lassen, in denen jeder Player eine Aufgabe im so entstehenden Netzwerk übernimmt: IHKs, HWKs, Wissenschaft, Technologieunternehmen und (Digital-)Verbände. In der Wissenschaft werden solche Ansätze als Qualifizierungs- und Bildungsnetze bezeichnet. Analog zur Idee des Internet verbinden derartige Qualifizierungs- und Bildungsnetze heterogene Knotenpunkte mit unterschiedlichen Kompetenzen miteinander. Wir müssen die Sache mit verteilter Logik angehen und die Aufgaben entsprechend der Expertise der Player vorsehen. Dazu gehören zum Beispiel die Generierung und Evaluierung von Inhalten und deren Distribution in die unterschiedlichen Branchen, denn zum Beispiel hat die Luftfahrtbranche andere Anforderungen als die Energiebranche. Das alles braucht sehr viel Manpower – aber nur so können wir die digitale Transformation auf den Weg bringen: gemeinschaftlich und mit einem kooperativen und gleichzeitig kompetitiven Ansatz. Es braucht ein strategisches Umdenken und einen kräftigen, wohldurchdachten Stimulus, der nach dem Anstoß weiter wachsen und sich selbstorganisiert entwickeln muss. Die positiven Seiten des Internets und der Digitalisierung könnten hierfür ein Vorbild sein.

Zur Person

Professor Dr. habil. Christoph Igel ist Wissenschaftlicher Direktor des Educational Technology Lab des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Berlin, Professor für Bildungstechnologie an der Technischen Universität Chemnitz, Visiting Professor an der Shanghai Jiao Tong University in China und Visiting Professor an der FernUniversität in Hagen. Zudem sitzt Igel der Expertengruppe „Intelligente Bildungsnetze“ des Nationalen Digital-Gipfels der Bundesregierung vor, ist Mitglied des Vorstandes der Charta digitale Vernetzung und Mitglied des ddn Demographie Netzwerkes. Darüber hinaus berät er als Sachverständiger die Fraktionen des Deutschen Bundestages, ist Gutachter für verschiedene Bundesministerien und berät Dax-Unternehmen zu Fragen der Personalentwicklung in Zeiten von Digitalisierung, Industrie 4.0 und Künstlicher Intelligenz.

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