Eine zweite Chance

Pierre-Patrick Lüdtke
Als Pierre-Patrick Lüdtke mit 41 Jahren noch eine Ausbildung begann, reagierte sein Umfeld irritiert. Heute ist er stolz darauf, schon mehr als die Hälfte geschafft zu haben © Klaudius Dziuk
Nicht nur direkt nach der Schule kann man in eine Ausbildung starten, sondern auch noch viel später. Das bringt Umstellungen mit sich, bietet aber auch Chancen – für Betriebe wie für Azubis.
Johanna Tüntsch
Johanna Tüntsch
© Klaudius Dziuk

„Löten, schweißen – ich habe immer gerne etwas mit Handwerken gemacht“, erzählt Pierre-Patrick Lüdtke. In dunkler Arbeitskleidung steht er in der Metallwerkstatt der Firma Studio-Service Bacht. Vor ihm liegt eine rechteckige Kunststofffläche, auf der er in präzisen Abständen aufgeklebte LED-Bänder andrückt: Hier entsteht ein maßgeschneidertes LED-Panel. Der Betrieb erstellt individuelle Studioeinrichtungen für video- und fotografische Zwecke. Dabei fallen Tätigkeiten aus den Bereichen Metallbau, Trockenbau, Elektro- und Steuertechnik an. Lüdtke ist bei Bacht in seinem zweiten Jahr einer Ausbildung zur Fachkraft für Metalltechnik – und das im Alter von 41 Jahren. Zuspruch aus seinem privaten Umfeld bekam er für die späte Entscheidung zur Ausbildung nicht, erzählt er: „Die meisten haben gesagt: ‚Du bist bekloppt!‘ Jetzt sind sie aber begeistert, dass ich noch dabei bin.“

Christoph Bacht, Geschäftsführer Studio-Service Bacht
Christoph Bacht, Geschäftsführer Studio-Service Bacht © Klaudius Dziuk

›› Man kann Bedenken gegen Jüngere wie gegen Ältere haben, deswegen sollte man jeden Fall einzeln testen. ‹‹

Christoph Bacht, Geschäftsführer Studio-Service Bacht

Möglich war dieser Schritt durch die Offenheit seines Arbeitgebers. Christoph Bacht bildet in seinem Unternehmen in Essen seit den 1990er-Jahren aus. „Fachleute fallen nicht vom Himmel. Durch unsere vielen Individualfertigungen, die bundesweit montiert werden, brauchen wir Leute, die breitbandig und flexibel arbeiten können“, erklärt er. Mit Lüdtke, der vorher als ungelernte Kraft in einer Stahlgießerei Teile für Automotoren herstellte, ist erstmals ein „älterer“ Auszubildender im Team. Bacht sah im Alter keine Hürde: „Man kann Bedenken gegen Jüngere wie gegen Ältere haben, deswegen sollte man jeden Fall einzeln testen. Es gehört immer eine gewisse Menge an Glück dazu.“

Praktikum als Testlauf

Nach Einschätzung von Marion Steinhoff, Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt der Arbeitsagentur Oberhausen/Mülheim an der Ruhr, kann die Ausbildung von Menschen, deren Schulzeit schon viele Jahre zurückliegt, sogar Vorteile haben: „Ältere Bewerberinnen und Bewerber können teilweise mit ihrer Lebens- und Berufserfahrung sowie mit ihren oftmals ausgeprägteren Sozialkompetenzen punkten. Das wissen die Unternehmen.“ Beispielsweise seien Studienabbrecher in den Zwanzigern oft schon lebensreifer und selbstständiger als Jüngere. 
Steinhoff beschreibt, dass mögliche Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber potenzielle Auszubildende gerne zunächst durch Gespräche und ein Praktikum kennenlernen.

Auch beim Studio-Service Bacht und Pierre-Patrick Lüdtke ging der Ausbildung ein zweiwöchiges Praktikum voran. So konnten beide Seiten einen Eindruck voneinander gewinnen. „Wenn man schon so alt ist, sollte man tief in sich gehen, eine Zeitlang gucken und dann wissen, was man wirklich will. Es ist vielleicht die letzte Chance“, meint Lüdtke. Auch sein Ausbilder Peter Kükenbrink war offen für den Versuch: „Ich fand es nicht schlecht, jemandem die Möglichkeit für eine zweite Chance zu geben. Kenntnisse, die man hat, sollte man weitergeben.“ Anderen Ausbilderinnen und Ausbildern würde er die Arbeit mit älteren Auszubildenden durchaus empfehlen, rät aber: „Man muss sich Zeit lassen und sich intensiv kümmern, auch wenn sich das erst mal nicht rechnet.“ Perspektivisch gesehen lohne sich der Zeitaufwand. „Wir produzieren sofort für den Verkauf, deswegen muss die Qualität stimmen. Tut sie das nicht, frage ich: Würdest du dafür Geld ausgeben?“ Mit der Zeit stelle sich dann die erforderliche Gründlichkeit ein.

Lernen muss man erst wieder lernen

Zuverlässigkeit sei etwas, das er mit seinem Auszubildenden trainieren musste, „aber das kann man auch mit einem jungen Spund haben“. Größere Sorgen verursacht es im Betrieb, wenn Lüdtkes schulische Leistungen nicht gut genug sind; insbesondere Rechnen gehört zu den Kompetenzen, die für die Erstellung von Maßanfertigungen unverzichtbar sind. Lüdtke selbst berichtet offen von seinen Schwierigkeiten: „Ich bin zwanzig Jahre aus der Schule raus, ich muss dreimal mehr überlegen als die anderen in der Klasse.“ Auch das soziale Miteinander mit seinen Mitschülern sei nicht leicht: „Die sind alle so jung, und ich bin denen zu alt. Ich bin ein Einzelkämpfer. Aufgeben ist aber keine Option. Jetzt habe ich schon mehr als die Hälfte hinter mir.“

Diese Distanz zwischen Schulabgängern und älteren Jahrgängen muss nicht immer so sein, zeigt die Erfahrung von Susanne Frentz. Sie startete im Alter von 37 Jahren ihre Ausbildung zur Fachangestellten für Arbeitsmarktdienstleistungen bei der Agentur für Arbeit in Essen. Über ihre Situation an der Berufsschule sagt sie: „Natürlich merkt man den Altersunterschied von zwanzig Jahren, aber als Gruppe passen wir trotzdem gut zusammen.“

Eigentlich hatte Susanne Frentz die Veranstaltung „Walk & Talk“ der Agentur für Arbeit besucht, um sich über alternative Jobmöglichkeiten in Unternehmen zu informieren, denn die Arbeitszeiten ihrer Tätigkeit als Kosmetikerin ließen sich nach der Geburt ihrer Kinder nicht mehr mit dem Privatleben vereinbaren. Dass sie mit ihrer Ausbildung nun eine Karriere in der Verwaltung statt in der Wirtschaft ansteuert, spielte für sie letztlich keine Rolle: Wichtig waren ihr Abwechslung, ein sozialer Auftrag und der persönliche Kontakt zu Menschen.

Auch Pierre-Patrick Lüdtke sagt: „Ich lege Wert darauf, dass man miteinander gut auskommt.“ Das sei bei Bacht gegeben. Auftretende Probleme werden in dem Familienbetrieb offen besprochen, dann sucht man gemeinsam nach Lösungen. Das schätzt der Auszubildende sehr. Geduld brauche man bisweilen, das machen Ausbilder und Arbeitgeber deutlich, finden den Einsatz aber absolut sinnvoll. Nicht nur, um anderen eine Chance zu bieten, sondern auch, damit der Betrieb weiterlaufen kann: „In nächster Zeit gehen viele in Rente, dann braucht man auch neue Leute“, so Kükenbrink.

Offene Kommunikation ist der Schlüssel

Eine Hürde, die mögliche Interessentinnen und Interessenten davon abhält, im fortgeschrittenen Alter nochmal eine Ausbildung zu beginnen, sind finanzielle Verpflichtungen. Je nach deren Höhe, etwa durch unterhaltspflichtige Kinder, reicht eine normale Ausbildungsvergütung für den Lebensunterhalt nicht aus. Verschiedene Ansätze, zu denen die Agentur für Arbeit berät, können helfen, das zu kompensieren. Auszubildende in Unternehmen der freien Wirtschaft können beispielsweise durch die Berufsausbildungsbeihilfe einen Zuschuss bekommen. Knapp bleibt es dennoch: „Wenn mein Mann und ich nicht zusammenhalten würden, dann wäre das alles nicht möglich“, sagt Frentz und thematisiert einen weiteren Aspekt: „Egal, ob es ums Gehalt geht oder um die Kinderbetreuung.“

Familiäre Verpflichtungen sollte man einfach besprechen, empfiehlt Marion Steinhoff von der Arbeitsagentur: „Mögliche Problemlagen seitens der älteren Bewerbenden, etwa bezüglich Kinderbetreuung oder anderen Familienpflichten, sollten von Anfang an offen kommuniziert werden.“ Einerseits lasse sich dadurch die Konstellation besser einschätzen, andererseits könne es sogar von Vorteil sein, wenn vor dem Wiedereinstieg in den Job die Familiengründung lag – dann ist tendenziell diese Phase vorbei und die Zusammenarbeit besser planbar. Vermeintliche Schwierigkeiten können je nach Betrachtung also auch Pluspunkte für beide Seiten sein.

Quelle: „Datenbank Auszubildende“ des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) auf Basis der Daten der Berufsbildungsstatistik der statistischen Ämter des Bundes und der Länder (Erhebung zum 31.12.). Absolutwerte aus Datenschutzgründen jeweils auf ein Vielfaches von 3 gerundet.


Zusammenfinden – aber wie?

4 Tipps für Unternehmen:

  • Ältere gezielt ansprechen
    Jede Messe muss individuell geplant werden: Last-Minute mit sofortigen Vertragsabschlüssen, Orientierungsveranstaltung oder Speed-Dating brauchen unterschiedliche Vorbereitungen
    www.arbeitsagentur.de/unternehmen/arbeitgeber-service
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  • Flexible Modelle anbieten
    Ältere Auszubildende können sich eventuell weniger leicht dem Rhythmus des Unternehmens anpassen als jüngere. Teilzeit-Ausbildungen mit flexibler Arbeitszeit kommen betreuungspflichtigen Eltern entgegen.
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  • Einander gut kennenlernen
    Passen die Bewerberinnen und Bewerber zur Unternehmensphilosophie und zum angestrebten Job? Praktika helfen, spätere Enttäuschungen zu vermeiden.
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  • Finanzielle Unterstützung beantragen
    Während Aus- und Weiterbildungen sind finanzielle Förderungen möglich, um das Gehalt aufzustocken. Dazu beraten die Arbeitsagenturen.

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