Unternehmen stehen im Azubi-Recruiting vor schwierigen Herausforderungen. Ausbildungsmessen, Berufsorientierungstage, Foren, die bisher direkten persönlichen Kontakt zu Jugendlichen ermöglichten, fanden im Lockdown nicht wie gewohnt statt. Auch die Gelegenheiten für Betriebe, sich in den Schulen als attraktiver Ausbildungsbetrieb zu präsentieren, fallen in Pandemiezeiten weitgehend weg. Schnuppertage und Praktika konnten ebenfalls nicht durchgeführt werden. „Die Corona-Krise beendet den Fachkräftemangel nicht“, mahnt Viola Bösebeck vom Fachbereich Ausbildungsmarketing der IHK Berlin. Deshalb rät sie Unternehmen, ihre Recruitingprozesse auf den Prüfstand zu stellen und den neuen Gegebenheiten anzupassen (siehe Tipps in der Printausgabe).
Einige Unternehmen haben ihr Engagement auf den digitalen Kanälen bereits verstärkt, um Jugendliche für eine Ausbildung anzusprechen und auszuwählen. Eine Möglichkeit ist, im Auswahlprozess auf Life-Videointerviews auszuweichen.
(Nur) Erstgespräche als Videocall
Bei der KaDeWe Group wird weiterhin uneingeschränkt mit einer gleichbleibenden Zahl an Plätzen ausgebildet, ist von Matthias Diesing, Director Human Resources des Unternehmens, zu erfahren. „Junge Menschen werden sich zukünftig vielleicht noch genauer überlegen, ob sie sich für eine Tätigkeit im Einzelhandel entscheiden“, sagt er. Umso wichtiger sei es, rechtzeitig geeigneten Nachwuchs an Bord zu holen.
Die Recruitingprozesse hätten sich durch den Lockdown im vergangenen Jahr allerdings schlagartig verändert. „Seitdem führen wir die Erstgespräche mit Bewerbern für eine Ausbildung digital.“ Die junge Generation sei dafür sehr offen. Die Durchführung von digitalen Erstgesprächen habe sich zudem als effizient und sinnvoll erwiesen. „Wir können schneller agieren und Gespräche optimal terminieren.“ Bei der KaDeWe Group werde man daher auch zukünftig die Erstgespräche digital durchführen.
Der Personalchef ist aber auch überzeugt, dass ein Videointerview das persönliche Kennenlernen nicht ersetzen kann. Deshalb sollen die Gespräche der nächsten Runde mit den Kandidatinnen und Kandidaten in der engeren Auswahl nach strengen Hygiene-Standards im Departmentstore stattfinden. „Gerade in unseren Ausbildungsberufen im Verkauf und in der Beratung spielen Persönlichkeit, Ausstrahlung, Bauchgefühl und Emotionen eine große Rolle. Das können wir über einen Videocall nicht zu hundert Prozent beurteilen“, resümiert Diesing.
Das deckt sich mit den Erfahrungen, über die Viola Bösebeck von der IHK Berlin auch aus anderen Unternehmen berichten kann. Videointerviews hätten zwar viele Vorteile, doch was die Einschätzung von Charakter oder Verhalten betreffe, „ist für viele Recruiter die Auswahl erschwert, wenn das persönliche Kennenlernen komplett wegfällt.“
Ungewohnte Situation für Jugendliche
Wer nun denkt, ein Video-Chat wäre für die Generation „Digital Natives“ eine Selbstverständlichkeit, täuscht sich. „Die jungen Leute haben mitunter eine sehr große Scheu, sich im Videointerview zu präsentieren“, weiß Bösebeck. „Oftmals scheitert es einfach an der Technik.“ Sie appelliert an die Personaler und Ausbildungsverantwortlichen, Empathie dafür zu zeigen, dass die Jugendlichen sich in einem Videointerview zwar in einer vertrauten Umgebung, aber dennoch in einer ungewohnten Situation befänden.
Mohamed Hekal ist bei der IHK Berlin für das Recruiting verantwortlich und kann bestätigen: „Technische Probleme auf Bewerberseite sind der größte Zeitfresser in einem Videointerview.“ Die IHK Berlin verschicke schon mit der Einladung zu einem Videointerview einen Link zur Konferenzsoftware, der es den Bewerbern ermögliche, vor dem Termin bereits Kamera und Mikrofon zu testen. Wenn alles funktioniert, sei dies für beide Seiten ein angenehmerer Gesprächseinstieg.
Videointerviews mit Fach- und Führungskräften seien bei der IHK Berlin bereits Standard, im vergangenen Jahr habe er auch mit Azubis erstmals die Kennenlerngespräche per Video geführt und gute Erfahrungen damit gemacht. Er sieht Videointerviews unabhängig von der Coronakrise dauerhaft als eine sinnvolle Ergänzung im Auswahlverfahren. Die Vorteile lägen ja auf der Hand: Zeitersparnis, Flexibilität, Kostenersparnis, Beschleunigung des Auswahlprozesses. „Die Selektion kann bereits in einer frühen Phase des Prozesses ohne großen organisatorischen Aufwand erfolgen.“
„Die jungen Leute haben mitunter eine sehr große Scheu, sich im Videointerview zu präsentieren.“
Viola Bösebeck, IHK Berlin
„Gerade in unseren Ausbildungsberufen spielen Persönlichkeit, Ausstrahlung, Bauchgefühl und Emotionen eine große Rolle. Das können wir über einen Videocall nicht zu hundert Prozent beurteilen.“
Matthias Diesing, KaDeWe Group