„Am Anfang war es wie ein Sprung ins kalte Wasser“

Auszubildende Lea Zerfaß (r.). Lena Eiler, Personalchefin bei Schneider Bau
Arbeitete drei Wochen in einem Architektur­büro im britischen Portsmouth: die Auszubildende Lea Zerfaß (r.). Lena Eiler, Personalchefin bei Schneider Bau, sieht in den Auslandspraktika einen großen Mehrwert auch für das Unternehmen © Markus Roth
Auslandsaufenthalte bieten Auszubildenden die Möglichkeit, wertvolle berufliche und persönliche Erfahrungen zu sammeln. Davon profitieren auch die Ausbildungsbetriebe.
Mascha Dinter
Mascha Dinter
Freie Journalistin

Zum ersten Mal für längere Zeit von zu Hause weg, allein in einem anderen Land – für viele junge Menschen ein großer Schritt. Die Auszubildende Lea Zerfaß hat ihn gewagt und im Mai 2024 ein dreiwöchiges Praktikum in einem Architekturbüro im britischen Portsmouth absolviert. „Es war schon krass, drei Wochen auf sich allein gestellt zu sein und ständig eine andere Sprache zu sprechen“, berichtet die 21-Jährige, die beim Bauunternehmen Schneider Bau im rheinland-pfälzischen Merxheim eine Ausbildung zur Bauzeichnerin absolviert. „Dank meiner Praktikumskollegen und meiner Gastmutter, die mich alle sehr herzlich aufgenommen haben, habe ich mich schnell zu Hause gefühlt. Überhaupt habe ich Großbritannien als total freundliches Land kennengelernt, alle waren sehr höflich und entspannt. Das hat mir sehr gut gefallen.“

Den Horizont erweitern

Schneider Bau bietet seinen Auszubildenden seit acht Jahren die Möglichkeit eines Auslandsaufenthaltes. „Das Auslandspraktikum ist eine große Chance für unsere Azubis, ihren Horizont zu erweitern und zu erleben, wie es in anderen Unternehmen zugeht“, sagt Lena Eiler, Leiterin Personal und Marketing bei Schneider Bau. Während ihres Praktikums erhielt Lea Zerfaß viele Einblicke in klassische Architektentätigkeiten wie die Fassadengestaltung, lernte den Umgang mit einem neuen Zeichenprogramm und begleitete ihre Kollegen auch auf Baustellen. „Obwohl ich aus der Schule sehr gute Englischkenntnisse mitbringe, kannte ich natürlich nicht alle Fachbegriffe. Deshalb habe ich mir jeden neuen Begriff gleich aufgeschrieben“, erzählt Lea Zerfaß, die im zweiten Ausbildungsjahr ist.

Während des Praktikums lebte die Auszubildende in einer Gastfamilie. „Meine Gastmutter ist sehr speziell – laut, extrovertiert und hektisch, aber auch sehr lustig. Mit ihr und ihrem kleinen Chihuahua habe ich viel außerhalb meiner Arbeitszeit unternommen : Sie hat mir die Stadt gezeigt, wir waren im Museum, im Kino, bowlen, shoppen, spazieren und haben Ausflüge nach Brighton und auf die Isle of White gemacht.“

„Ein Gefühl von Selbstsicherheit“

Lea Zerfaß würde jederzeit wieder die Möglichkeit nutzen, ins Ausland zu gehen. „Am Anfang war es wie ein Sprung ins kalte Wasser – fremde Menschen ansprechen, mit ihnen warm werden, mit dem öffentlichen Nahverkehr umgehen und solche Sachen. Wenn ich rückblickend daran denke, dass ich das gepackt habe, gibt mir das ein Gefühl von Selbstsicherheit“, sagt die Auszubildende. „Wichtig ist, dass man sich auf die Menschen, das Essen und die Traditionen des Gastlandes einstellen kann. Man stößt immer wieder auf kulturelle Unterschiede, die einen überraschen.“

Während ein Auslandsaufenthalt im Studium oft üblich ist, ist er während der Ausbildung eher selten. „Für uns als Ausbildungsbetrieb ist das ein Pluspunkt, der auch bei der Rekrutierung neuer Auszubildender eine Rolle spielt“, sagt Lena Eiler, die in den Auslandspraktika einen großen Mehrwert für die Auszubildenden, aber auch für das Unternehmen sieht. „Unsere Azubis lernen in dieser Zeit so viel. Das macht sich unmittelbar nach ihrer Rückkehr bemerkbar. Sie können sich danach besser strukturieren, sind offener und gehen leichter auf andere zu. Auch wenn es sich um verhältnismäßig kurze Zeiträume von drei oder vier Wochen handelt, haben sie einen großen Einfluss auf die persönliche Entwicklung.“ Und das nicht erst, wenn die Auszubildenden im jeweiligen Land angekommen sind. „Der Lerneffekt setzt schon in den Wochen davor ein, wenn die Azubis anfangen, ihr Praktikum zu planen und zum Beispiel einen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben verfassen, Flüge buchen oder Versicherungsfragen klären“, sagt Lena Eiler.

„Berufsbildung ohne Grenzen“ unterstützt

Nachdem Schneider Bau die Auslandsaufenthalte seiner Auszubildenden zunächst in Eigenregie organisiert hatte, wird das Unternehmen seit 2020 von „Berufsbildung ohne Grenzen“ unterstützt. Die Berater des Netzwerks helfen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) u. a. dabei, ihren Auszubildenden und jungen Fachkräften Auslandsaufenthalte während und nach der Ausbildung zu ermöglichen. Bundesweit stehen dafür über 50 Beratungsstellen zur Verfügung, die überwiegend bei den Industrie- und Handelskammern sowie den Handwerkskammern angesiedelt sind. Das Projekt wird vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert und von der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) sowie der Zentralstelle für die Weiterbildung im Handwerk e.V. koordiniert.

Die Berater informieren u.a. darüber, welche Anträge gestellt werden müssen und welche Fördermöglichkeiten es gibt und organisieren auf Wunsch auch die Vermittlung an einen ausländischen Betrieb. Dazu arbeitet „Berufsbildung ohne Grenzen“ mit regionalen Partnerorganisationen und Agenturen in zahlreichen Ländern weltweit zusammen. Diese verfügen nicht nur über ein Netzwerk von Betrieben, die ausländische Praktikanten aufnehmen, sondern vermitteln auch Unterbringungsmöglichkeiten beispielsweise in Gastfamilien und Herbergen. Die ausländischen Gastbetriebe verpflichten sich, während des Auslandsaufenthaltes ausbildungsrelevante Inhalte zu vermitteln.

„Die Nachfrage steigt“

„Die Nachfrage steigt, denn die Unternehmen merken, dass sie mehr bieten müssen, um sich jungen Menschen als attraktiver Arbeitgeber zu präsentieren und sie langfristig zu binden“, sagt Anja Rüweling von der DIHK-Koordinierungsstelle in Berlin. Doch nicht nur das spricht für einen Auslandsaufenthalt während der Ausbildung. „Die Auszubildenden erweitern ihre persönlichen, fachlichen, interkulturellen und sozialen Kompetenzen, indem sie sich in einem neuen Umfeld bewegen. Sie lernen, sich neuen Herausforderungen zu stellen und manchmal auch neue Arbeitstechniken. Das sind sehr wertvolle Erfahrungen, die sie anschließend im Betrieb anwenden können.“


Finanzierung des Auslandsaufenthalts

Die meisten Auszubildenden, die ins europäische Ausland gehen, bewerben sich um ein Erasmus+-Stipendium. Das Förderprogramm der Europäischen Union bietet Auszubildenden und Studierenden finanzielle Unterstützung für Auslandsaufenthalte in Europa. Die Höhe der Förderung variiert je nach Land und Art des Aufenthaltes. Daneben gibt es zahlreiche weitere Förderprogramme wie „Ausbildung weltweit“, „ProTandem“ für deutsch-französische Austausche oder das Deutsch-Afrikanische Jugendwerk (DAJW). Auch wenn die Fördermittel oftmals einen Großteil der Kosten für Anreise, Unterkunft und Lebensunterhalt ab­-decken, sind die Ausbildungsbetriebe verpflichtet, die Ausbildungsvergütung sowie alle Sozialversicherungsabgaben auch während des Auslandsaufenthaltes zu zahlen.


Fragen & Antworten zum Auslandsaufenthalt während der Ausbildung

Wer kann ins Ausland gehen ? Grundsätzlich ist ein Auslandsaufenthalt für jeden Auszubildenden möglich, sofern der Ausbildungsbetrieb und die Berufsschule zustimmen. Bei minderjährigen Auszubildenden sind einige zusätzliche Regelungen zu beachten. Einschränkungen hinsichtlich des Alters der Auszubildenden oder der Leistungen in der Berufsschule oder im Betrieb gibt es nicht. Zu beachten ist, dass die reguläre Ausbildungszeit durch den Auslandsaufenthalt nicht überschritten werden darf.

Wie lange sollte ein Auslandsaufenthalt dauern ? Die meisten Teilnehmer des Projekts „Berufsbildung ohne Grenzen“ verbringen zwischen drei und sechs Wochen im Ausland. Empfohlen wird ein Mindestaufenthalt von zwei Wochen, damit sich der organisatorische Aufwand lohnt.

Wann ist der ideale Zeitpunkt ? Idealerweise sollte das Auslands­praktikum nach der Zwischenprüfung und vor der Vorbereitung auf die Abschlussprüfung stattfinden, so die Berater von „Berufsbildung ohne Grenzen“. Grundsätzlich ist ein Auslandsaufenthalt aber bis zu zwei Jahre nach der Ausbildung möglich. Da die während des Auslandsaufenthaltes versäumten Berufsschulinhalte selbstständig nachgeholt werden müssen, bieten sich die Sommermonate an, da in dieser Zeit Berufsschulferien sind.

Wohin soll’s gehen ? Auslandsaufenthalte sind weltweit möglich. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass die Fremdsprachenkenntnisse ausreichen, um sich im jeweiligen Gastland verständigen zu können. Die meisten Auszubildenden wählen Ziele im englischsprachigen Raum oder in Ländern, in denen Englisch als Zweitsprache gesprochen wird.

Wie weit im Voraus sollte man sich kümmern ? Die Berater von „Berufsbildung ohne Grenzen“ empfehlen, im Idealfall ein halbes Jahr Vorlaufzeit einzuplanen, da für die Beantragung von Fördermitteln bestimmte Fristen gelten. Unter Umständen kann ein Aufenthalt aber auch kurzfristig organisiert werden.

www.berufsbildung-ohne-grenzen.de

www.erasmusplus.de/erasmus/berufsbildung

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