Seit August 2021 ist es amtlich: Für alle neuen und neu geordneten Ausbildungsberufe gelten modernisierte Standardberufsbildpositionen, einheitliche Inhalte, die integrativ während der gesamten Ausbildungszeit zu vermitteln sind – etwa im Bereich Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Unternehmen müssen ihre Azubis dazu befähigen, die Konsequenzen ihres beruflichen Handelns auf die Umwelt und die Lebens- und Arbeitsbedingungen heutiger wie zukünftiger Generationen abzuwägen, die eigenen Verhaltensweisen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln.
Wie Ausbildungsbetriebe mit dieser Aufgabe umgehen, zeigt das Beispiel des Provinzial-Konzerns. Neben einem Workshop, bei dem alle Azubis im ersten Jahr erfahren, was sich hinter dem Begriff Nachhaltigkeit verbirgt und wie die Nachhaltigkeitsstrategie des Versicherungsunternehmens aussieht, gibt es für alle Auszubildenden im zweiten Jahr eine Projektwoche, bei der sich die angehenden Fachkräfte selbstgewählten Themen widmen – etwa aus dem Bereich Nachhaltigkeit. „Dabei entstehen innovative Ideen, die zum Teil langfristig umgesetzt und weiterverfolgt werden“, sagt Viktoria Neukirchen, Ausbildungsexpertin am Standort Düsseldorf und dort für 152 der konzernweit 356 Azubis und dual Studierenden verantwortlich.
Das Ausbildungspersonal gezielt geschult
Gemeint sind Ideen, mit denen sich Energie oder Papier sparen lassen, aber auch Erfolge wie ein Mehrweg-Becher-System für den „Kaffee to go“ im hauseigenen Café oder das Ansiedeln von Honigbienen. Zusammen mit einer Imkerin kümmern sich aktuelle und ehemalige Azubis um die Bienenstöcke neben dem Düsseldorfer Verwaltungsgebäude, wo sie auch bienenfreundliche Außenflächen angelegt und ein Wildbienenhotel gebaut haben. Über den Honig, der an die Kollegen verkauft wird, soll sich das Projekt langfristig finanzieren. „Dass Ideen umgesetzt werden und zu positiven Veränderungen führen, wirkt sich positiv auf das Mindset der Azubis aus und bestärkt sie darin, sich weiterhin für nachhaltiges Denken und Handeln einzusetzen“, so Neukirchen.
Im Provinzial-Konzern, traditionell wirtschaftlich und gesellschaftlich eng mit den Regionen verbunden, ist Nachhaltigkeit fest verankert. „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter folgen der Leitlinie Nachhaltigkeit, deren Ziel es ist, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit sowie Ressourcen- und Umweltschutz in Einklang zu bringen. Nachhaltigkeit ist für uns ein wichtiger Baustein zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit unseres Unternehmens“, erläutert Annette Loechelt, Stabsabteilungsleiterin Ausbildung und Arbeitgebermarke. Ausbildungs- und Führungspersonal werde gezielt geschult und von den Nachhaltigkeitsbeauftragten des Konzerns unterstützt, um Nachwuchskräfte für diesen Dreiklang zu sensibilisieren und die notwendigen Kompetenzen zu vermitteln. „Nachhaltigkeit liegt nie in der Verantwortung Einzelner, sie ist immer eine gemeinschaftliche Leistung aller relevanten Bereiche“, so Loechelt.
Systematische Integration oft noch am Anfang
So sieht es auch Joachim Raschke, der bis zum 1. August für die Stabsstelle Nachhaltige Entwicklung der IHK Nürnberg für Mittelfranken tätig war und sich aktuell weiter in Bildungsprojekten engagiert. „Themen nachhaltiger Entwicklung in die berufliche Bildung zu integrieren, sollte selbstverständlicher Teil einer ganzheitlichen Personalentwicklung sein“, sagt der Experte. Die Mitarbeitenden seien die Grundlage und der Antrieb für eine erfolgreiche Verankerung von Nachhaltigkeit im Unternehmen, „dafür müssen sie mit Beginn der Ausbildung motiviert und befähigt werden“. Das, so Raschke, erfordere auch neue Kompetenzen beim ausbildenden Personal. Moderne Formen der Zusammenarbeit, Lieferketten, Einsparen von Ressourcen, Digitalisierung – „wenn die Ausbildenden nicht wissen, in welchen Bereichen sie Veränderungsprozesse anstoßen können, wie sollen sie dann Azubis dahingehend anleiten?“
Themen nachhaltiger Entwicklung in die berufliche Bildung zu integrieren, sollte selbstverständlicher Teil einer ganzheitlichen Personalentwicklung sein.
Joachim Raschke, Bildungsexperte
Eben diese Fähigkeiten zu stärken, war Ziel des vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projektes ANLIN² (Ausbildung fördert nachhaltige Lernorte in der Industrie²), das die IHK Nürnberg für Mittelfranken mit dem Frankfurter Bildungsdienstleister Provadis umgesetzt hat. In bundesweiten Workshops lernten 250 ausbildende Fachkräfte, wie sie Nachhaltigkeit in alle Lehr- und Lernsituationen mit Auszubildenden einbinden können. „Damit solche Qualifizierungen nicht verpuffen, braucht es klare Zielsetzungen im Unternehmen, eine Strategie, wie diese Ziele erreicht werden sollen, und eine Personalabteilung, die die Strukturen für Veränderungen schafft“, sagt Raschke. Doch die systematische Integration von beruflicher Bildung für nachhaltige Entwicklung stehe in vielen Betrieben noch am Anfang.
Was Berufsorientierung leisten kann
Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit hat der Provinzial-Konzern viel erreicht – und bereits neue Ideen. „Perspektivisch sollen unsere Azubis die Möglichkeit bekommen, Nachhaltigkeits-Botschafterinnen und -Botschafter zu werden, die ihr Wissen in die Breite der Belegschaft und in ihr privates Umfeld tragen“, sagt Ausbildungsexpertin Neukirchen. Die freiwilligen „Green Ambassadors“ seien wertvolle Multiplikatoren, auch, um andere junge Menschen für eine Ausbildung zu begeistern. „Vielen Kandidatinnen und Kandidaten ist es wichtig, welche Rolle Umweltschutz und Nachhaltigkeit im Unternehmen spielen, deshalb machen wir das überall zum Thema, wo wir präsent sind – an Schulen, in den sozialen Medien oder bei Aktionen wie dem Girls’Day.“
Mit Angeboten, die einen Einblick in das geben, was man in Sachen Nachhaltigkeit tatsächlich leistet oder plant, können Unternehmen bei jungen Talenten punkten.
Marny Schröder, Provadis Partner für Bildung und Beratung GmbH
Attraktiv, weil nachhaltig? Marny Schröder, Projektleiterin Bildungs- und Forschungsprojekte bei der Provadis Partner für Bildung und Beratung GmbH, weiß, dass gerade grüne Jobs bei Jugendlichen hoch im Kurs stehen. „Damit sie trotzdem den Beruf ergreifen, der zu ihren individuellen Stärken und Interessen passt, sollte Berufsorientierung vermitteln, dass jeder Beruf nachhaltig gestaltet werden kann“, so Schröder. Auch Branchen, die als weniger nachhaltig angesehen würden, leisteten viel, um die Transformation positiv mitzugestalten. „Mit Angeboten, die einen Einblick in das geben, was man in Sachen Nachhaltigkeit tatsächlich leistet oder plant, können Unternehmen bei jungen Talenten punkten – auch kleinere Betriebe, die in vermeintlich weniger attraktiven Berufen ausbilden.“
Wie sich das sogenannte „Greening der Berufe“ in Berufsorientierungsmaßnahmen einbauen lässt, zeigten die Feriencamps Boom (BerufsOrientierung und grüne JObs Mal anders), die Provadis gemeinsam mit der CSCP gGmbH und der Sportjugend Hessen umgesetzt hat. Über einen Zeitraum von zwei Jahren nahmen 221 junge Menschen an den sechstägigen Camps teil, um berufliche Tätigkeiten unter Anleitung von Praktikern auszuprobieren, an nachhaltigen Projekten zu arbeiten, eigene Stärke und Fähigkeiten zu entdecken. Schröder: „Schulabgänger haben unzählige Optionen, ihren beruflichen Weg zu gestalten, und sie sollten wissen: Egal, für welchen Beruf sie sich entscheiden, jeder bietet die Möglichkeit, sich für eine bessere Zukunft einzusetzen.“
Nachhaltigkeit und Umweltschutz: 5 Tipps für Ausbildungsbetriebe
- Vielen jungen Menschen ist es wichtig, dass ihr Arbeitgeber umwelt- und sozialverträglich wirtschaftet. Betriebe, die herausarbeiten, welche Rolle Nachhaltigkeit und Umweltschutz in ihren Ausbildungsberufen spielen, können ihre Attraktivität gegenüber Bewerbern steigern. Besonders praxisnah lassen sich Nachhaltigkeitsaspekte bei Angeboten wie Praktika oder Projekttagen vermitteln.
- Ob Berufsorientierung oder Ausbildung – bei Projekten zur nachhaltigen Bildung gilt es, die richtige Balance zwischen Theorie und Praxis zu finden. Maßnahmen, bei denen die Teilnehmenden selbst aktiv werden, mit Spaß lernen und vielleicht sogar etwas Bleibendes für ihren Alltag oder ihr Unternehmen kreieren können, sind wirkungsvoller als Frontalvorträge ohne Praxisbezug.
- Vom Azubi bis zur Führungskraft: Mitarbeitende wissen häufig nicht, was sich hinter dem Begriff Nachhaltigkeit verbirgt, dass es neben dem ökologischen auch um den ökonomischen und sozialen Wandel geht. Arbeitgeber sollten deshalb intern darüber aufklären, was Nachhaltigkeit für ihr Unternehmen bedeutet und wie Mitarbeitende die firmeneigene Nachhaltigkeitsstrategie positiv beeinflussen können.
- Die Vermittlung von Wissen und Handlungskompetenz im Bereich der Nachhaltigkeit darf keine losgelöste Einzelmaßnahme sein. Motivierte Mitarbeitende erreichen wenig, wenn Belegschaft und Führungsebene nicht bereit sind, Veränderungen mitzutragen. Es gilt, nachhaltige Bildung systematisch in die Personalentwicklung zu integrieren und die richtigen Strukturen für einen nachhaltigen Wandel zu schaffen.
- Lehr- und Lernmaterialien, Beratung und Qualifizierungsangebote gibt es unter anderem beim Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), den IHKs, bei Arbeitgeber- und Branchenverbänden sowie branchennahen Bildungszentren.